#14 Takayama: Was ist schön?
Der arme 5.000-Yen-Schein hatte dieses unwürdige Prozedere ganz sicher nicht verdient. Aber er musste sich jetzt opfern. Für die Gerechtigkeit. Oder zumindest für meine kindliche Rachlust, die ich heute spüre, hier in Takayama, Japan.
Denn der künftige Empfänger dieses Scheins, Wert etwa 30 Euro, der hatte es ganz sicher so, und nicht irgendwie anders, verdient. Er wartete sehnsüchtig auf diesen Schein, und das ärgerte mich sehr, aber ich hatte genug Zeit diesen Plan auszuarbeiten. Eine Art notwendige Erziehungsmaßnahme. Klingt zumindest besser als “Rache”. Ich muss an “Kill Bill” denken, Tarantinos japanische Rache-Saga. Ganz so blutig wird es dann wohl nicht, aber es muss einfach durchgezogen werden. Es ist eine pädagogische Mission, so rede ich mir das ein.
Ich nehme also einen der Ziplock-Beutel, die ich auf Reisen immer dabei habe und die mir schon oft aus irgendeiner Patsche geholfen hatten. Heute, nach dem ich mich so dermaßen geärgert hatte, über diesen unverschämten Gastgeber, da regen sie auch meine Kreativität an.
Der 5.000-Yen-Schein, gerade noch frisch ausgespuckt von einem japanischen Bankautomaten, wandert in den Ziplock-Beutel. Dann öffne ich dieses Fläschchen mit Fischsauce - nachdem ich mich im Supermarkt versichert hatte, dass diese Marke besonders fischig riecht. Ich schnuppere - ja, sie ist extrem fischig. Sehr gut!
Nun kommt Eins zum Anderen und ich lasse das Ganze zwei Stunden marinieren.
Böse Textnachrichten meines ehemaligen Gastgebers begleiten den Marinade-Vorgang, aber ich bitte ihn noch um etwas mehr Zeit. Eine gute Marinade braucht eben etwas, da ist von allen Beteiligten Geduld gefragt. Beim Kochen wie auch bei pädagogischen Maßnahmen.
Aber - was war eigentlich vorgefallen? Warum das alles?
Corpus delicti: 5.000-Yen-Schein in Fischsaucen-Marinade.
Schnitt. Ein Tag früher.
Ich fliege von der nördlichen Insel Hokkaido auf die Hauptinsel Honshu, nach Toyama, an der gleichnamigen Bucht gelegen.
Toyama ist eine interessante Zwischenstation, ein paar Stunden habe ich hier. Ich schließe meinen Hauptrucksack am Bahnhof ein und besuche Tempel und Gärten, die japanischer kaum sein könnten. Der Toyama Castle Park. Es ist alles so klischeemäßig, dass es fast unauthentisch wirkt. Aber, es ist alles wahr und es ist echt, und ich bin happy!
In Toyama nehme ich nach dem kurzen Zwischenstopp den Zug, der mich Richtung Süden bringen soll, in die Berge der Hauptinsel, in die japanischen Alpen von Honshu.
Japans Züge - alles klar, alles easy, immer pünktlich.
Mit der Bummelbahn von der Küste in die japanischen Berge, Ziel: Takayama.
Takayama, in diesem kleinen Städtchen - keine Hunderttausend Einwohner - steige ich aus dem Zug und laufe mit meinen Rucksäcken durch die kleinen, aufgeräumten Gassen. Es ist schon spät, und meine Beine und das Gepäck sind schwer, als ich mich den Berg hoch schleppe, auf dem Weg zu meiner lange vorab gebuchten Unterkunft.
Das japanische booking.com Gästehaus war etwas Besonderes. Es lag am Hang dieses Berges, den ich gerade hochkroch, und das Zimmer, das ich ausgewählt hatte, ist geräumig und hat eine wunderbare Aussicht über die Stadt. Ein echtes Highlight! Dazu noch dieses tolle japanische Design, mit einem kleinen Tisch, der direkt am Fenster steht. Hier werde ich ein paar Tage verbringen und mit spektakulärem Ausblick die weitere Reiseplanung angehen, Blog-Texte schreiben, Bilder bearbeiten - und einfach diese stylische Unterkunft genießen. Für die ich aufgrund ihrer Vorzüge auch mehr hinblättere, als auf dieser Langzeitreise üblich. Ich freue mich!
Doch es kommt anders.
Als ich spätabends schnaufend an der Unterkunft ankomme, wird mir genauso überraschend wie grob der Zutritt verweigert, man sei ausgebucht. Stattdessen werde ich in ein heruntergekommenes Haus geführt, ein paar hundert Meter von meinem verbindlich gebuchten Zimmer, eine komplett andere Unterkunft, ein komplett anderer Standard. Meine alternative Unterkunft ist kleiner, älter und hat auch keine Aussicht über die Stadt, sondern stattdessen in den Hinterhof und auf eine Betonwand.
Frust! Auch sowas passiert auf Reisen, aber wohl eher selten in Japan und selten auf Portalen wie booking.com. Und bisher ist so etwas auf meiner Reise auch noch nicht passiert.
Leider ist es mittlerweile so spät, dass ich für heute keine Alternative mehr habe. Ich muss hier bleiben, zumindest für eine Nacht.
Am nächsten Morgen lege ich mein komplettes Bargeld auf den Tisch, das immerhin stolze dreiviertel einer Übernachtung entspricht, einer Übernachtung im gebuchten, schicken Gasthaus, wohlgemerkt. Mehr als dieses Loch hier wert ist, das ich zudem ja gar nicht gebucht hatte.
Das ist mein konstruktiv und freundlich gemeinter Vorschlag, um diese unglückliche Situation zu regeln, so schreibe ich dem Gastgeber.
Nach wenigen Minuten bekomme ich eine aggressive, respektlose und völlig überdrehte Textnachricht zurück. Der Gastgeber droht mit dem Anzeigen einer Straftat bei der japanischen Polizei mit harten Konsequenzen. Ich solle das restliche Geld sofort vorbei bringen.
Da fällt mir fast mein Macha Tee aus der Hand.
Auch booking.com ist bei der Mediation der Situation nicht sonderlich hilfreich.
Schließlich entscheide ich mich dazu, nicht weiter zu eskalieren. (Dies hier ist die Kurzfassung; hässliche Einzelheiten der Kommunikation und ein Besuch meinerseits bei der nicht gerade hilfsbereiten japanischen Polizei spare ich lieber aus.) Keine Eskalation also, aber ich sollte diesem betrügerischen Typen nicht nur eine schlechte Bewertung geben, sondern auch einen Denkzettel verpassen. Und hier kommt dann besagte Fischsauce ins Spiel, und der 5.000-Yen-Schein, den er mit Androhung der Anzeige erpressen möchte, wohl wissend, dass sich die japanische Polizei kaum auf die Seite des Langnasen-Touristen schlagen würde, auch wenn die Langnase im Recht wäre. Statt Risiko dann doch lieber konstruktiv gemeinte Selbstjustiz.
Ich platziere den Ziplock-Beutel mit seinem wertvollen Inhalt im Aufenthaltsraum der abgerockten Unterkunft. Einer von uns beiden, so schreibe ich ihm als letzte Nachricht, wird diese Sache hoffentlich stinkend in Erinnerung behalten. Und ich bitte darum, in Zukunft keine Gäste mehr abzuzocken. Außerdem, was immer er nun zurück schreiben würde, ich würde es nicht lesen. Er schreibt zurück - ungelesen bis heute.
Ich mache einen Haken an die Sache, aber schön war das alles nicht.
Und wegen der Schönheit bin ich doch eigentlich nach Takayama gekommen.
Klein, gradlinig, minimalistisch, mein neues Zimmer in der Innenstadt von Takayama.
Wegen der Schönheit - und wegen Wabi Sabi.
Auch deshalb lag Japan auf meiner Reiseroute.
Nicht nur wegen dem Sashimi, den Ramen-Küchen, dem Hida-Beef und den Onsen, nicht nur wegen dem maximal-durchgeknallten Tokio und nicht nur wegen den spektakulären Hokkaido-Wanderungen.
Nein - auch, um endlich Wabi Sabi zu begreifen.
Oder es zumindest zu versuchen.
Und jetzt sitze ich hier, in Takayama und blicke auf diesen alten Tempel.
Und Wabi Sabi beschäftigt mich.
Wabi Sabi.
Als ich die beiden Worte vor ein paar Jahren zum ersten Mal gehört hatte, sagten sie mir nichts.
Wahrscheinlich dachte ich, es hätte irgendetwas mit Sushi zu tun.
Tut es aber nicht. Oder vielleicht in Einzelfällen doch, es kommt wahrscheinlich auf das Sushi an. Doch wenn Sushi tatsächlich Wabi-Sabi-Elemente aufweist, möchte man es vielleicht lieber doch nicht essen.
Wabi Sabi ist nicht nur schwer zu verdauen, sondern irgendwie auch schwer zu begreifen. Obwohl es eigentlich überall zu finden ist, nicht nur hier in Japan. Aber hier liegt eben der Ursprung.
Meine Recherche ergibt folgendes: Wabi Sabi könnte als Geisteshaltung beschrieben werden, die es vermag, Schönheit zu finden in Aspekten der Unvollkommenheit der Umgebung, vor allem in der Natur - und diese Schönheit nicht nur zu erkennen, sondern vor allem auch anzuerkennen und wertzuschätzen.
Wabi Sabi ist also keine Architektur- oder Kunstrichtung und auch kein Stilelement für Landschaftsgestaltung. Es ist ein "Mindset".
Ein philosophisch-ästhetisches Konzept.
Vielleicht sogar eine Ideologie.
Ich blicke auf diesen etwas heruntergekommenen Tempel. Wabi Sabi?
Ich fühle nichts. Außer, dass der Wind etwas auffrischt.
War das mal schön? Oder wird das noch?
Etwas später, zurück in meiner Unterkunft. Der freundliche Gastgeber muß relativ lange überlegen und sagt schließlich:
Wabi Sabi an sich gibt es überhaupt nicht.
Es sei für jeden etwas anderes.
Es sei ein Gefühl, ein nostalgisches.
Aha, Wabi Sabi scheint tatsächlich schwer zu greifen zu sein, aber ich komme dem Geheimnis näher. Sicher scheint, dass Wabi Sabi Ursprünge im Buddhismus hat und sich um die Ästhetik der Dinge dreht, die unvollkommen, unbeständig und unvollständig sind:
Wabi (侘び) und sabi (寂び) sind eigentlich zwei im Japanischen negativ besetzte Wörter. Wabi bedeutete etwa “ein einsames Leben in der Natur, weit weg von der Gesellschaft”. Und Sabi bedeutete „mager“, „verwelkt“ und drückte einen Verfall aus, der im Laufe der Zeit alles und jeden heimsucht.
Wabi Sabi: Alles eine Frage der Zeit?
Heute aber versteht man unter wabi “Stille und Rustikalität” und erkennt in sabi eine “Anmut im Altern”. Wabi Sabi zusammengenommen also, ist vielleicht eine tröstende Art auf die perfekt-unperfekte Welt zu schauen und Fehler und Mängel, Flüchtig- und Sterblichkeit zu akzeptieren, sogar als schön und elegant zu sehen.
Wabi: “Stille und Rustikalität”
Sabi: “Anmut im Altern”
Es scheint also darum zu gehen, Schönheit im Verfall zu finden, im Lücken- und Fehlerhaften, im Abgelebten. In der Patina, die sich mit der Zeit zwangsläufig um alles legt.
Wabi Sabi - die Schönheit der Vergänglichkeit, die Schönheit der Unvollkommenheit. Das schreibt sich schön und wirkt so einfach. Und es liest sich bestimmt auch schön und einfach. Aber als Person mit westlicher Sozialisierung dieses Konzept tatsächlich zu begreifen, bedarf es wohl eines Wandels des Mindset. Vielleicht ist es doch nicht ganz so einfach.
Ich möchte so schnell nicht aufgeben und fange an über mein Leben nachzudenken - aus Wabi-Sabi-Sicht:
Eigentlich ist mein beruflicher Alltag seit jeher davon geprägt im audiovisuellen Kreationsprozess immer und konstant nach dem Perfekten zu streben. Fehler, Lücken, Makel, niemals zu zulassen und wenn’s doch mal passiert, alles sofort zu korrigieren.
Und nun hier, auf meiner Reise, versuche ich dauernd möglichst schicke, perfekte Fotos zu machen und aus meiner Reiseroute das Maximum herauszuholen. Das leidenschaftliche Drama des Perfektionisten.
Doch ist das schön?
Was ist schon wirklich schön?
Ich nehme Takayama an.
Ich nehme die Challenge an, Wabi Sabi zu suchen und Wabi Sabi zu fühlen.
Heute bin ich mit meiner Kamera unterwegs, in der Innenstadt. Es geht durch den historischen Stadtkern mit diesen süßen, kleinen Gassen und traditionellen, mit Asche geschwärzten, Holz-Häusern. Nirgends ist Plastik zu finden, weder als Müll, noch als Leuchtreklame. Fast ausschließlich natürliche Materialien.
Diese beeindruckend unaufgeregte Architektur aus der Edo-Zeit erinnert an Kyoto, was ich vor ein paar Jahren besucht hatte. Takayama ist allerdings kleiner, weniger überlaufen - und vielleicht auch etwas authentischer. So kommt es mir zumindest vor.
Es macht richtig Spaß hier umherzustreifen und Wabi Sabi zu suchen - und das öffnet mir tatsächlich den Blick für eine besondere Art von vergänglicher Schönheit.
Takayama: Was ist schön?
Zumindest reift die Erkenntnis, dass es Wabi Sabi an sich gar nicht gibt - solange bis man Wabi Sabi in einer Sache für sich erkennt.
Sonst wäre jedes einsam welkende Blatt, jede unvollendete Baustelle, jede visuelle Unvollkommenheit, alles einfach Wabi Sabi.
Nein - so geht es nicht, da bin ich mir jetzt sicher.
In der Innenstadt finde ich einen Laden, von dem ich nicht wirklich weiß, was er eigentlich verkauft. Möbel? Lampen? Kunst? Dekorationen? Vor allem wohl eine Idee von Ästhetik. Die mir sehr zusagt. Ich lasse mich hinein ziehen und habe das Gefühl hier Wabi Sabi zu finden.
Es wird gesagt, Wabi Sabi erlaube es einem, akzeptabler und offener zu sein, die Schönheit von Fehlern und Rohheit anzunehmen.
Diese Einsicht könnte ich im perfektionistisch-optimierten Alltag wirklich gut gebrauchen. Das Wabi-Sabi-Konzept klingt nämlich im Kontext unserer digitalisierten Realität mehr als weltfremd und völlig aus der Zeit gefallen - ist aber wahrscheinlich eben deshalb gerade sinnvoll und wichtig.
Wabi Sabi ist ein Gegensatz zu unseren westlichen Idealen von Materialismus, künstlicher Schönheit und verzweifelt gesuchter Perfektion.
Die es zweifellos auch im hyperkapitalistischen Japan gibt. Wabi Sabi lehrt auch, geduldiger und präsenter zu sein, uns mit dem, was wir haben, zufrieden zu geben. Es erinnert uns an unseren Platz in der Natur und inspiriert, in der Realität das Gute und Schöne zu sehen.
Das gefällt mir!
Ich nehme mir vor, mehr Wabi Sabi Fotos zu machen auf meiner Reise - und vor allem auch in meinem Alltag mehr Wabi Sabi zu zulassen.
Schnitt. Etwas später. Es ist spät Abends, und mit dem erhebenden Gefühl Wabi Sabi etwas näher gekommen zu sein, breche ich auf, zu einer nächtlichen Foto-Tour durch die Altstadt. Kaum ein Mensch ist unterwegs. Ich betrachte diese kleinen Häuschen aus der Edo-Zeit, der prägenden Epoche zwischen 1603 und 1868. Die Architektur ist konsequent erhalten, Laternen tauchen die Gassen in ein warmes Licht.
Visuell ist das alles gleichzeitig beruhigend und aufregend, eine interessante Mischung. Vor allem aber ist Takayama ein ästhetischer Traum, besonders in der Dämmerung, der Blue Hour und nachts.
Aber auch tagsüber gibt es Highlights. Und kein Trip nach Takayama ist komplett ohne ein Besuch des Takayama Jinya, dem historischen Regierungsgebäude aus der Edo-Zeit.
Damals war es das Haus und Regierungssitz des Statthalters, heute ist es ein nationales Kulturerbe. Interessierte können hier ein bisschen Geschichte schnuppern. Ich bin interessiert und muss feststellen, dass das Leben damals minimalistisch, ordentlich, kühl und hart gewesen sein muss. Aber auch ein Bisschen ästhetisch.
Takayama gefällt mir richtig gut und ich bleibe hier auch noch etwas. Statt Architektur und Kultur muss aber mal wieder ein Bisschen Natur auf dem Plan stehen. Morgen früh geht’s mit dem Bus in die Berge zum Wandern. Darauf freue ich mich sehr, denn das Wetter ist perfekt und die japanischen Alpen sollen super schön sein!
Oyasumi Takayama - Gute Nacht Takayama!